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Group show, Galerie Raum mit Licht, Vienna, Nov. 2019 – Feb. 2020
The title Just a detail points to the inconspicuous, supposedly marginal or even derogatory – that which is commonly overlooked and considered worthless. Yet resistance also resonates within it: the realization that a detail can also be significant and that the big picture can only be grasped in a close-up mode. The alienating change of perspective—a characteristic of many works by Judith Huemer—confronts beholders with unexpected views.
The artist’s work is characterized by a highly varied artistic practice which is expressed in various media and materials. It ranges from drawings, sketches and collages to large-format analogue photographs. Ready-mades are just as important as installations, performances and video works. What connects them is the immersive delving into the dazzling facets of everyday life until an existential ground is reached.
Der Titel Just a Detail verweist auf das Unscheinbare, vermeintlich Marginale oder sogar Abfällige, das, was gemeinhin übersehen und für wertlos erachtet wird. Doch schwingt auch Widerständigkeit mit: die Erkenntnis nämlich, dass ein Detail zugleich das Bedeutsame sein kann und dass erst in Nahsicht das große Ganze zu fassen ist. Der verfremdende Perspektivenwechsel – ein Charakteristikum vieler Arbeiten von Judith Huemer – konfrontiert mit unerwarteten Ansichten.
Dabei zeichnet sich das Werk der Künstlerin durch eine höchst vielseitige künstlerische Praxis aus, die sich in diversen Medien und Materialien äußert. Sie reicht von Zeichnungen, Skizzen und Collagen bis zu großformatigen analogen Fotografien. Ready-mades zählen ebenso dazu wie Rauminstallationen, Performances und Videoarbeiten. Was sie verbindet, ist das immersive Eintauchen in die schillernden Facetten des alltäglichen Lebens, bis ein existenzieller Grund erreicht wird.
Wie schon bei vielen Künstlerinnen der feministischen Avantgarde der 70er Jahre spielt auch in den Werken Judith Huemers der eigene Körper als Erfahrungsinstrument eine große Rolle, und zwar auf eine originelle und sehr spezifische Weise, mit der sie sich von dieser Vorgängergeneration entschieden absetzt. Von zentraler Bedeutung ist nämlich nicht der Körper an sich, sondern der Körper an der Schnittstelle zur Gesellschaft und ganz besonders in Beziehung auf das, was ihn in dieser kleidet, was ihm im Hier und Jetzt eines gelebten sozialen Zusammenhangs für einen Moment eine bestimmte Rolle, eine bestimmte Textur und eine bestimmte Farbe, ja eine bestimmte Erscheinung auf den Leib schneidert. Ein binäres Geschlechterdenken ist ihr dabei fremd. Doch mehr noch: Huemer stellt auch die Frage, was bleibt? Was wird aus den bunten Hüllen, in denen sich nicht nur die Schnelllebigkeit modischer Geschmacksperioden abbildet, sondern zugleich auch die Resistenz synthetischer Stoffe behauptet? Dass die Konsumgüter der Wegwerfgesellschaft die Spanne eines Menschenlebens weitaus überdauern können, ist ein bekanntes Paradoxon, sie jedoch als Speichermedium zu inszenieren und sich durch sie ein Denkmal zu setzen, ist eine frappierend positive Umkehrung, die nachdenken lässt.
In der Ausstellung sind Werke zweier fotografischer Serien zu sehen, die sich explizit mit dem Thema von Textilien im Spannungsfeld von sozialer Rollenzuschreibung und möglicher Identitätsverwirklichung auseinandersetzen. Mit der Serie wornout begann Judith Huemer 2016. Doch markiert eine rosa-weiß karierte Strumpfhose aus dem Jahr 1997 den Ausgangspunkt dieser fortlaufenden Serie. Man könnte diese Arbeit als eine Art privates Archiv abgetragener Strümpfe beschreiben. Individuell verlebte Bewegung und die persönliche Entscheidung für einen bestimmten Kleidungsstil speichern sich in ihnen. Die ästhetischen Signaturen ihrer Herstellungszeit bleiben den hauchdünnen Kleidungsstücken eingewoben. Meist handelt es sich um Strumpfhosen von starker Buntfarbigkeit, nur während ihrer Residency in Rom seien ausschließlich hautfarbene Feinstrumpfhosen erhältlich gewesen. 1959 erstmalig eingeführt, wurden die elastischen Beinkleider aus leicht verletzlichen Kunstfasern bald zum Symbol für schön geformte, farbige, attraktive Frauenbeine und zum prädestinierten Material für feministische Künstlerinnen. Im Falle Judith Huemers begann alles mit dem federleichten „Etwas“ einer zartrosa-weiß karierten Strumpfhose. Zusammengedrückt füllte die „Abgelegte“ nur wenig mehr als eine hohle Hand. Strumpf um Strumpf, Schicht für Schicht wickelt und formt die Künstlerin seither einen ungleichmäßig wachsenden Körper daraus, als ginge es um das Recycling ihres Parzenfadens. Je nach Elastizität und Abnutzung schmiegen sich die unterschiedlichen Beinlinge an oder werfen Falten, bis sie von der nächsten Lage geglättet werden. Am Ende fügen sich alle dem Verbund. Mit immer gleicher Fokussierung, allerdings in unregelmäßigen Abständen wird dann der „status quo“ in analoger Fotografie vor weißem Hintergrund festgehalten. Als Format wählt die Künstlerin ein annäherndes Quadrat (41,5 x 40 cm). Die scheinbar eigenbestimmte Maßstäblichkeit verwehrt es, die reale Dimension des Strumpfkonglomerates einzuschätzen. Niemandem übrigens hat Huemer bisher das Original gezeigt. Den fertigen Print dreht die Künstlerin schließlich um 90 Grad. Dass der Schatten des Stoffkörpers diesen jetzt von der Seite hinterfängt, irritiert und steigert seine skulpturale Anmutung. Er scheint in den Raum hineinzuschwellen und sich dem Licht entgegenzudehnen. Die Fotografien der differenten Stadien entpuppen sich nun als Momentaufnahmen einer persönlichen Zeitkapsel, die das werdende Leben von Judith Huemer begleiten und absorbieren. Verschiedenartige und bisweilen gegensätzliche Assoziationen lassen sich an das enigmatische Werk knüpfen: Einmal erscheint der Strumpfkörper als potenzierter Lebensabdruck und gewinnt so die Qualitäten eines Porträts (Nina Schedlmayer). Ein andermal wird er mit der magischen Bedeutungshaftigkeit von Gegenständen eines Stilllebens assoziiert.
Die zweite fotografische Serie, die eine verwandte Thematik aufweist, entstand zwischen 2010 und 2013. Sie ist fünfteilig, doch der Titel signalisiert auch hier eine konzeptuelle Unabgeschlossenheit und den Zufall der Auswahl: UND bunt, UND türkis, UND metallic, UND hellrosa, UND pink. Insbesondere die Einzelarbeit wird dadurch als Teil eines größeren Ganzen ausgewiesen. Judith Huemer hat in dieser Serie Stoffrollen festgehalten, wie sie in entsprechenden Geschäften zu finden sind. Im Gegensatz zur Serie wornout, in der sich die Künstlerin verarbeiteten und getragenen Textilien widmet, zeigt sie hier den industriell hergestellten Rohstoff, in den das Leben einzukleiden wäre. In selbstherrlicher Artifizialität, in der sich Kunst und Design berühren, drängen sich die farbigen Körper von acht prallen Stoffrollen in dichtem aufrechtem Nebeneinander. Der Eindruck entsteht, als konkurrierten sie geradezu um Aufmerksamkeit. Ein schwerer Stahlrahmen in den monumentalen Maßen von 262 x 179 cm umgrenzt die Bühne ihres Auftritts und zwingt sie in ein hochrechteckiges Feld. Dennoch ringen die Betrachter*innen darum, sich in eine Beziehung zu dem Gesehenen setzen zu können. Es wird ihnen nicht leicht gemacht. In jahrelanger Arbeit hat die Künstlerin die C-Prints immer wieder überarbeitet, hat Farben, Oberflächenstrukturen, Schatten und Lichtzonen zahlreichen Revisionen unterzogen und mit Spiegelungen oder lichtabhängiger Farb- und Texturauslöschung schließlich die Grenzen zwischen Fotografie, Skulptur und Malerei ihrer Bedeutung enthoben. Assoziationen zur amerikanischen Farbfeldmalerei der 50er 60er Jahre werden wach. Aus nahsichtigen Aufnahmen von Industriestoffen hat Judith Huemer monumentale Farbarchitekturen geschaffen, die sich jeglicher Einordnung entziehen.
Just a detail!
© Judith Huemer 2023